Friedensland
Schon mein ganzes Leben lang bin ich auf dem Weg zum Friedensland. Wenn ich ehrlich bin, ist es eine ewige Flucht. Eine Flucht, dem Kriegsland zu entkommen. Manchmal zielstrebig und mit Power, oft jedoch verliere ich das Friedensland auch völlig aus den Augen. Dann fängt mich der Krieg kurz ein. Irgendwann schaffe ich es, mich aus den Klauen des Krieges zu befreien und sprinte weiter. Das Ziel scheint unerreichbar und ist sehr weit weg.
Doch dann finde ich ein Fernglas, mit dem ich tief in meine eigene Seele schauen kann. Und da öffnet sich ein Tor. Ein Tor ins Friedensland. Jeden Tag spähe ich nun hindurch und was ich sehe, ist gigantisch. Deswegen nehme ich mir fast jeden Tag etwas Zeit, um durch das Fernglas zu schauen.
Letzte Woche hat hinter mir ein Krieg begonnen, Bomben schlagen ein, Menschen sterben. Es ist unfassbar und wenn ich dorthin blicke, dann kommen mir die Tränen. Dieses Leid hat keine Worte. Wie gelähmt stehe ich da, hilflos. Was kann ich tun?
Und da fällt mir mein Fernglas wieder ein. Ich setze mich hin, atme tief, ein und aus, ein und aus und dann nehme ich das Fernglas und schaue in meine Seele. Und wieder öffnet sich das Tor ins Friedensland. Und diesmal trete ich hindurch.
Alles ist hell, der Frieden strahlt als leuchtendes Herz in der Mitte der Welt. Aus ihm wabern schillernde Kugeln. Was wohl in ihnen ist? Sie sehen aus wie Seifenblasen. Immer wieder neue schillernde Kugeln fliegen davon.
Und da, dort sitzen Tiere zusammen. Alle Arten von allen Kontinenten. Friedlich liegen sie beieinander. Sie scheinen sich zu unterhalten. Und sie scheinen zu lachen.
Und da, dort tanzen und singen Menschen zusammen – alle Rassen, Kulturen und Länder. Manche halten sich an den Händen, manche umarmen sich.
Und da, ich höre ein feines und leises Glockenläuten und eine der schillernden Kugeln fliegt auf mich zu. Jetzt, als sie immer näher kommt, klingt es wie Walgesang. Die Kugel setzt sich auf meine Hand und dann zerplatzt sie. Glücksseligkeit und Frieden. Alle Worte verschwinden. Und für kurze Zeit katapultiert sie mich in das Herz, woher die schillernden Kugeln kommen. Dort nehme ich so viele schillernde Kugeln, wie ich tragen kann. Dann gehe ich zurück ins Kriegsland, wo ich vorhin durchs Fernglas geschaut habe. Und von dort werfe ich die Kugeln zu den Menschen, die gegeneinander kämpfen.
Und dort, wo die Kugeln zerplatzen, dort wird es still. Ich setze mich hin und weine, ob vor Glück oder Traurigkeit? Ich weiß es nicht.
Und ich frage mich, ob ich weiter ins Friedensland gehen soll oder zurück und den Frieden in die Welt bringen, mit Worten, Taten, Geschichten und ganz viel Liebe. Und mit dem Fernglas kann ich ja jederzeit einen kurzen Besuch machen ins Friedensland.
Lange sitze ich da, spüre in mich hinein, was die richtige Entscheidung ist. Und dann lächele ich. Ich werde im Kriegsland gebraucht. Ich muss zurück. Also packe ich mein Fernglas ein und mache mich auf den Weg.
Bild und Geschichte Copyright in allen Medien: Silke Geßlein 1.3.2022
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